Das Interaction Design Kit: Eine Kreativmethode nach Storytelling-Mechanismen

Anwendungscharaktere

In Folge 4 haben wir Enes Ünal als Gast begrüßen dürfen. Gemeinsam mit ihm haben wir erörtert, was sich hinter dem Begriff “Storytelling” eigentlich verbirgt und wie wir es als UX Designer in unserem Prozess einbeziehen können, um begeisternde Nutzererlebnisse zu schaffen.

Als Absolvent des Studiengangs Leadership in the Creative Industries hat sich Enes verstärkt mit der Thematik auseinandergesetzt und eine Methode entwickelt, die Interaktionsdesigner dabei unterstützen soll, Anwendungscharaktere nach traditionellen Storytelling-Prinzipien zu entwickeln. Wie versprochen hat er uns eine Zusammenfassung seiner Recherche und dem Interaction Design Kit zukommen lassen.

Was ist Storytelling?

Die Kunst des Erzählens (engl. Storytelling) wurde bereits an den Lagerfeuern unserer Vorfahren kultiviert. Sie ist wohl das älteste und wirkungsvollste Kommunikationsmittel, das wir Menschen haben, um Wissen weiterzugeben. Storytelling ist also eine Art der Informationsvermittlung.

Was ist eine Geschichte?

Eine Geschichte kann als eine „Abfolge von Handlungen“ definiert werden (Etzold, 2014, S. 42). Viele Geschichten verbinden gemeinsame Erzähl-Elemente und -Muster, von der Struktur über einzelne Rollen bis hin zu Formulierungen (“Es war einmal… ”). Hollywood-Autoren setzen zum Beispiel oft die Heldenreise, einen archetypischen Spannungsbogen aus dem kollektiven Unterbewusstsein, als Blaupause für ihre Filme ein.

Etzold, Veit; Ramge, Thomas (2014): Equity Storytelling – Thing – Tell – Sell: Mit der richtigen Story den Unternehmenswert erhöhen, S. 42, Wiesbaden: Springer Verlag

Warum eignen sich Geschichten besonders gut als Informationsvermittler?

Geschichten stiften Sinn und sprechen Emotionen an, bieten Unterhaltung und die Möglichkeit zur Identifikation. Außerdem helfen sie, Komplexität zu reduzieren und zeigen Handlungsoptionen auf (Ettl-Huber, 2014, S. 66). Das macht sie besonders. Aus der Gedächtnistheorie ist bekannt, dass die Informationsverarbeitung ein mehrstufiger Prozess ist, bei dem immer wieder gefiltert wird bis eine Information wirklich im Langzeitgedächtnis verankert wird. Gehirnforschern zufolge überspringen emotionale Inhalte aber diesen Prozess – stattdessen werden sie direkt im Langzeitgedächtnis gespeichert. Kurzgesagt, Geschichten bleiben besser im Kopf.

Ettl-Huber, Silvia (2014): Storytelling in der Organisationskommunikation: Theoretische und empirische Befunde, S. 66, Wiesbaden: Springer Verlag

Seng, Leonie (2012): Erinnern mit Gefühl (online unter https://www.dasgehirn.info/denken/gedaechtnis/erinnern-mit-gefuehl-5181)


Über Enes

enesuenal

Enes Ünal
User Experience Architect
candylabs GmbH

„Der Designer betreibt unweigerlich Storytelling!“

Enes Ünal ist User Experience Architect. Seit Dezember 2014 verantwortet er bei candylabs die Bereiche Konzeption & Gestaltung und unterstützt Startups, Mittelstand sowie Corporates bei der digitalen Produktentwicklung. Zuvor studierte er Interactive Media Design, B.A. und Leadership in the Creative Industries, M.A. an der Hochschule Darmstadt. Das Ergebnis seiner Master Thesis ist das Interaction Design Kit, eine Kreativmethode nach Storytelling-Mechanismen.

Kontakt
Website: enesuenal.com
Twitter: @enesuenal.com


Was ist das Interaction Design Kit

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Das Interaction Design Kit ist eine Kreativitätsmethode. Es kombiniert Modelle aus den Welten Storytelling und Design, um Interaktionsdesigner und ihre Teams bei der Gestaltung eines Anwendungscharakters zu unterstützen. Zu diesen Modellen gehören die Heldenreise, eine vereinfachte Form der Customer Journey Map und die Archetypen.

Der Nutzer wird hier immer als der aufstrebende Held behandelt. Er wird so zur zentralen Figur einer Geschichte, durchläuft eine heldenhafte Entwicklung (die Heldenreise) und begegnet unterschiedlichen Charakteren (den Archetypen), die als Features interpretiert werden.

Das Interaction Design Kit umfasst ein Poster nach der Heldenreise und Methodenkarten mit archetypischen Charakterbeschreibungen. Diese sollen im Designprozess sowohl Orientierung als auch Inspiration bieten. Sie können Designern dabei helfen, sich zu fokussieren und inhaltlich schneller zu Ergebnissen zu kommen.

Für die Verwendung des Interaction Design Kits hat man am besten die Zielgruppenanalyse abgeschlossen, kennt also mittlerweile seinen Helden und dessen Bedürfnisse sehr gut. Enes empfiehlt mind. einen halben Tag für die Arbeit mit Poster und Karten einzuplanen.

Heldenreise

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Christopher Voglers Heldenreise auf der Basis von Joseph Campbells Monomythos ist eine Möglichkeit Geschichten zu konstruieren. Hierbei handelt es sich um eine wissenschaftliche Auswertung von Geschichten und Mythen, die sich Menschen überall auf dem Globus in derselben Struktur erzählt haben.

Das Skelett der Heldenreise lässt sich laut Vogler wie folgt zusammenfassen:

(1) Heroes are introduced in the Ordinary World, where

(2) they receive the Call to Adventure.

(3) They are Reluctant at first or Refuse the Call, but

(4) are encouraged by a Mentor to

(5) Cross the first Threshold and enter the Special World, where

(6) they encounter Tests, Allies, and Enemies.

(7) They Approach the inmost Cave, crossing a second threshold

(8) where they endure the Ordeal.

(9) They take possession of their Reward and

(10) are pursued on the Road Back to the Ordinary World.

(11)They cross the third threshold, experience a Resurrection, and are transformed by the experience.

(12) They Return with the Elixir, a boon or treasure to benefit the Ordinary World
Vogler, Christopher (2007): The Writer’s Journey – Mythic structure for writers, 3. Au age, Los Angeles: Michael Wiese Productions

Archetypen

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Die Archetypen, die aus dem Storytelling bekannt sind, kommen ursprünglich aus der Psychoanalyse von Carl Gustav Jung. Sie sind Urbilder aus dem kollektiven Unterbewusstsein des Einzelnen, immer wiederkehrende Symbole und funktionieren unabhängig von den einzelnen Kulturen. Die Autorinnen Mark & Pearson bedienten sich an diesem Konzept und entwickelten es weiter.

Mark & Pearson erklären in ihrer Theorie folgende Archetypen:

(1) Der Held ist immer die Hauptfigur einer Geschichte. Er ist der klassische Weltverbesserer.

(2) Der Rebell ist ein Unruhestifter, Außenseiter, Revolutionär und Freiheitskämpfer.

(3) Der Magier ist der Meister des Wandels und lässt Wünsche wahr werden. Er verspricht eine transformierende und tiefgreifende Erfahrung.

(4) Der Bodenständige ist der unauffälligste unter den Archetypen. Er möchte auf keinen Fall aus der Masse herausragen, um nicht anzuecken.

(5) Der Liebhaber deckt jede Art von Liebe ab. Dazu zählen Elternliebe, freundschaftliche Liebe und romantische Liebe.

(6) Der Narr ist verspielt und nimmt selbst die brenzligste Situation mit Leichtigkeit. Als unermüdlicher Spaßmacher lädt er dazu ein, in freudigem Bewusstsein zu leben.

(7) Der Beschützer opfert sich für andere und bietet im wahrsten Sinne des Wortes Schutz an.

(8) Der Schöpfer will etwas erschaffen, das bestaunt wird und einen langfristigen Mehrwert liefert. Dafür ist er bereit, kreative und unkonventionelle Wege zu gehen.

(9) Der Herrscher steht in erster Linie für absolute Kontrolle, Erfolg und Stabilität in der Gesellschaft.

(10) Der Unschuldige betrachtet die Welt mit kindlichen Augen. Er ist ehrlich, aber auch naiv.

(11) Der Entdecker will Langeweile und Stillstand vermeiden, um das Leben in allen Facetten auszukosten.

(12) Der Weise steht für Kompetenz und Know-how. Er ist wissenshungrig, aber er hat auch selbst das ständige Bedürfnis sein Wissen und seine Ratschläge zu teilen.

Mark, Margaret; Pearson, Carol (2001): Auszug aus The Hero and the Outlaw – Building extraordinary Brands through the power of Archetypes, New York

Wie vorgehen?

  1. Breite das Poster und die Karten auf freiem Untergrund aus, oder befestige sie an einem Whiteboard. Mach dich und dein Team mit der Systematik der Heldenreise und der Archetypen vertraut.
  1. Beginne immer mit der Phase der “gewohnten Welt” und arbeite dich dann chronologisch durch die anderen Phasen der Heldenreise. Dabei überlegst du, welcher Schritt in der Customer Journey deines Nutzers (dem Helden), dieser Phase entspricht. Danach platzierst du die Karte mit dem Archetyp für diese Phase, der zu den Bedürfnissen deines Nutzers am besten passt. Ziel ist es, dass deine Anwendung sich in jeder Phase kontextabhängig und empathisch verhält.

Tipp: Die Auswahl der Archetypen verlangt Fingerspitzengefühl. Unter Berücksichtigung der Marke und Zielgruppe können sich schnell Favoriten von Archetypen für den Anwendungscharakter herauskristallisieren. Eine erste, engere Auswahl kann dir und deinem Team Orientierung bieten. Du kannst einen Archetyp auch in mehreren Phasen platzieren. Das wirkt sich auf den Gesamteindruck deines Produkts aus: Wenn beispielsweise viele Narren in der Heldenreise auftauchen, muss es sich um eine lustige App handeln. 🙂 Enes empfiehlt allerdings nicht ausschließlich den gleichen Archetyp zu verwenden.

  1. Dir kommen jetzt schon Ideen wie sich der Archetyp in dieser Phase für dein Produkt auswirken könnte? Zum Beispiel in Funktion, Tonalität oder Bildsprache? Dann kannst du, bevor du zur nächsten Phase weitergehst, alle Ideen mit Stiften und Post-its unter der Archetypen-Karte festhalten.
  1. Am Ende solltest du dir mit deinem Team über die Wahl und die Positionierung auf der Heldenreise einig sein. Wenn das nicht der Fall sein sollte, kannst du überprüfen, ob es verwandte oder alternative Archetypen gibt, die sich nach Meinung des Teams für eine bestimmte Phase besser eignen.

 

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